Das Interview
Ant: Wie bist Du bloß auf die Idee gekommen, mich in Deinem Buch zu einer Figur zu machen, der Du glaubst nachspüren zu müssen. Du wüßtest nichts oder nur wenig über mich, schreibst du, aber was weiß ich über Dich? Überhaupt ist es das Letzte, was ich in meinem Leben wollte, irgend jemandes Figur zu sein.
Layla Shah: Ant, wie auf dem Umschlagbild bleibst du als Person in
meinem Roman verschwommen, auch wenn du dort im Mittelpunkt stehst.
Selbst als du unter unseren Augen aufgewachsen bist, warst du das
unbekannte Wesen. Ich hätte nie gedacht, daß es dir mit mir ebenso
gehen könnte. Ich war deine größere Schwester, fertig. Du hast
gemacht, was du wolltest. Ich hätte nie angenommen, ich spielte eine
Rolle in deinem Leben, oder ich könnte Dir ein Rätsel aufgeben.
Natürlich habe auch ich mich versteckt, bin nach Newcastle gegangen,
um Architektur zu studieren. Du hättest sicher den Platz an
der berühmten Architekturschule in London angenommen, der mir
angeboten worden war, aber ich - Karriere hin, Karriere her -
habe es vorgezogen, ein paar hundert Meilen zwischen mich und Shalimar zu legen.
Tut mir leid, aber du eignest dich besser zur Romanfigur als ich.
Junge Männer wie du, mit dem richtigen Pass, der richtigen Sprache,
der richtigen Bildung, die sich trotzdem fremd, nicht akzeptiert
und angenommen fühlen, haben nur knapp zwei Jahrzehnte nach dir
Bomben in London gelegt. Hättest du sie verstanden?
Ant: Heißt es nicht, über die Toten sei nichts anderes zu berichten als Gutes.
Wäre ich als Rechtsanwalt noch tätig, ich glaube, ich hätte die andere Seite
der Barrikade bemüht, in meinem Namen den Verlag zur Schwärzung einiger Stellen
zu verurteilen, die erstens vollkommen unwahrheitsgemäß um nicht zu sagen frei
erfunden sind und zweitens den Tatbestand übler Nachrede erfüllen.
Layla Shah: Wenn du vor Gericht gehen willst, mußt du das in der Schweiz tun,
so bestimmt es der Vertrag mit dem Verlag, und ich bin mir nicht sicher,
ob Schweizer Gerichte Romanfiguren, die zudem noch tot sind, als Kläger zulassen.
Was immer deine Defizite als fiktionaler Charakter sind, trittst du nicht
immer auf als Verteidiger von Bürger- und sozialen Rechten, von Personen,
die sich selbst nicht wehren können? Ich dachte, es könnte dir gefallen,
Teil eines Buchs zu sein, das versucht zu beschreiben, wie es ist,
wenn man "brit and brown" ist. Vielleicht hast du vergessen,
wie wenig die europäischen Ureinwohner darüber wissen, wie es sich anfühlt,
anders zu sein. Sie werden nicht von Hooligans auf der Straße angegriffen,
müssen sich nicht bei der Ausländerbehörde registrieren lassen, ihre Häuser
werden nicht von der Polizei gestürmt - aber das muß ich doch dir nicht erzählen.
Wie bei unserer Londoner Familie handelt es sich bei den Familienmitgliedern
in "brit and brown" - wie man heute sagt - um total integrierte britische Bürger,
was sie allerdings nicht vor alltäglichem Rassismus schützt.
Wie alle Konvertiten sind sie als Einwanderer der ersten Generation dankbar
allein dafür, daß man sie rein gelassen hat.
Ant: Du schreibst zwischen den Zeilen über den sublimen englischen Rassismus,
hast Du während deines Lebens in Kuwait, Hongkong oder Deutschland sowas nie erlebt?
Layla Shah: Zweimal hat man mich in Deutschland in Restaurants nicht bedient,
weil man annahm, ich sei eine Türkin. In Düsseldorf, in der Altstadt, einen Steinwurf
von der Kunstakademie, hatten wir eine Stunde auf unser Essen gewartet.
Alle anderen, auch die viel später gekommenen Gästen aßen bereits,
da knallte uns der Kellner, nachdem wir ihn mehrfach erinnert hatten,
statt der bestellten Rinderbrust mit dicken Bohnen, Teller mit
Schweinsbratwürsten vor die Nase. Sublim. Und in Frankfurt, wo ich im
Cafe des Museums für moderne Kunst einfach garnicht bedient wurde,
brachte mir das, nachdem ich dem Direktor einen Brief geschrieben hatte,
immerhin eine Entschuldigung des Direktors, der nichts dafür konnte, und eine
Sendung mit zwei Kunstkatalogen ein.
Bis heute werde ich zu den Austellungseröffnungen eingeladen.
Ant: Mag sein, ich war zerissen, aber immerhin bin ich nicht abgehauen, wie du.
Du wolltest malen und bist Architektin geworden. Du wolltest frei sein und hast
dich verheiratet. Und jetzt schreibst du. Denkst du, damit sei irgendetwas zu verändern?
Layla Shah: Wann hat Kunst schon wirklich was verändert? Ich bin nicht so naiv, aber Schreiben
wie Malen, ist etwas, was man tun soll, wenn man es kann. Es ist Teil der Kultur,
obwohl ich als Britin weiß, du würdest das nicht mögen, zuzugeben intellektuell zu sein.
Die Briten halten sich zugute, Macher zu sein, Krieger, schnell dabei ihre Ländereien zu
verteidigen, selbst wenn sie ihnen nicht gehören. Sie wollen Erfinder sein, nicht Denker.
Deshalb legen sie soviel Wert auf ihre steife Oberlippe.
Wenn man aufwächst, ist der wichtigste Schritt, den man tun muß,
sich von der Familie zu trennen. Weil ich Kind von Immigranten war,
schienen mir andere Orte nicht so fremd zu sein, wie sie Menschen erscheinen,
die nicht Verwandte haben, die über die ganze Welt verstreut sind. Das hat mich
neugierig gemacht, alles selbst zu sehen, die strahlenderen Farben, die wärmeren
und kälteren Regionen und Leute, andere Sprachen zu hören. Ich weiß nicht,
ob das Leben als Malerin mir mehr hätte bringen können. Man kann keine zwei
Leben gleichzeitig führen. Wir alle treffen unsere Wahl, und erst viel später merken wir,
wie sehr wir damit unser weiteres Leben geformt haben.
Ich bin weggegangen. Du bist geblieben.
Ant: Ich gebe zu, ich habe an einigen Stellen des Buches gelacht.
Aber an die Geschichte mit Tante El und dem Schuppen im Garten kann ich mich nicht erinnern.
Oder hast Du Dir das ausgedacht? Auch die Sache mit Jo hat mir gefallen.
Ich habe ja von meiner Beerdigung nicht viel mitgekriegt. Daß er mich dort ein zweites
Mal auf seinen Schultern getragen hat, geschieht ihm recht, schließlich hat er
mir zweimal meine Schwester weggenommen. Aber du siehst, auch wir
Jüngeren können uns wehren. Er war selber schuld. Er hätte mir nicht
»Emil und die Detektive« schenken müssen.
Layla Shah: Jetzt erfindest du Geschichten. Wer ist hier der Schriftsteller?
Mein Buch ist ein Roman. Und ja, es ist nicht zu bestreiten, daß er
etwas von unserem Familienleben enthält. Ich gebe Dir recht, aber nur teilweise.
Natürlich habe ich dich benutzt. Es ist die ewige Frage:
Was ist an einem Roman autobiografisch, was nicht.
Kürzlich empörte sich Hans-Ulrich Treichel: »Das bin ich nicht! Meine Bücher sind frei erfunden.«
Und auch ich sage, ich bin nicht das »ich« in meinem Buch.
Ob das gelogen ist oder nicht, kann dir und allen anderen Lesern
doch egal sein, Hauptsache die Geschichte ist wahr, und dafür verbürge ich mich.